Der Wunsch eines kinderlosen Ehepaars ein Dauerpflegekind aufzunehmen
Hier ein Erfahrungsbericht (punktuell) eines Ehepaares
-Diakonie stellt einen Jungen namens Tim (Name geändert) im Alter von 14 Monaten den Pflegeeltern vor
-Tim wirkt beim Kennenlernen zufrieden, offen und liebenswert…die werdenden Pflegeeltern können sich vom ersten Moment an vorstellen, Tim als Dauerpflegekind aufzunehmen (Unkonzentriertheit beim Spielen oder Distanzlosigkeit sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich. Die erfahrene Kurzzeitpflegemutter berichtet allerdings davon, dass sie so ein Kind noch nicht betreut hat. Tim ist nach ihren Angaben zu Hause beim Spielen sehr sprunghaft, unkonzentriert und kann nicht lange bei einer Sache verweilen, Tim geht an alles dran …Nichts ist vor ihm sicher… hinzu kommt eine extreme Ungeduld bei der Nahrungszubereitung, wenn eine Mahlzeit ansteht.).
-Seit dem 1. Geburtstag lebt Tim in dieser erfahrenen Kurzzeitpflegefamilie, im ersten Lebensjahr ist kaum eine feste Bindung zur leiblichen Mutter im Mutter-Kind-Haus entstanden (Kurzzeitpflegeeltern sind aufgrund ihres Alters Oma und Opa für Tim, die Pflegeeltern werden Mama und Papa, dies akzeptiert Tim problemlos).
-Durch Besuchskontakte wird der Kontakt innerhalb der nächsten 3 Monaten zu Tim vertieft, im häuslichen Umfeld ist Tims Unruhe und Sprunghaftigkeit sehr deutlich zu spüren. Draußen ist Tim durch seine Bewegungsfreudigkeit am besten zu beschäftigen (erste Gehversuche, Spielplatz, usw.).
-Tim besucht auch die neuen Eltern in diesem Zeitraum bei ihnen zu Hause. Den werdenden Eltern wird in der Kennenlernphase bewusst, dass mit Begrenzungen gearbeitet werden muss. Da Tim zu diesem Zeitpunkt sehr gefährlich lebte, …er wurde beim Krabbeln immer schneller, zog sich überall hoch, musste jeden Schalter ausprobieren, wechselte ständig den Spielort in wenigen Minuten/Sekunden. Tim wirkte dabei aber sehr fröhlich, vergnügt und lebensfroh. Mit 16 Monaten zog er bei seinen neuen Eltern ein. Es war ein sehr freudiger Moment für alle Beteiligten.
-Tim wurde zu diesem Zeitpunkt schrittweise an ein Kinder-Ställchen gewöhnt. Er hatte dort einige Spielsachen, war anfangs nicht alleine im Raum und es wurde mit kurzen Zeiten angefangen, die dann gesteigert wurden. Als Tim sich an die Begrenzung gewöhnt hatte, schlief er auch oft im Ställchen. Sein Kinderzimmer war kindgerecht eingerichtet, ein Törchen im Türrahmen war aber dringend erforderlich. Tim schaffte es, wenn Kinderlieder von CD liefen, sich einige Zeit im Zimmer alleine zu beschäftigen.
-In diesem Zeitraum hofften die Pflegeeltern sehr, dass die Unruhe von Tim sich mit der Eingewöhnung mit der Zeit legen würde. Allerdings trat dies nicht ein, die Unruhe von Tim wurde mit dem zunehmenden Alter deutlicher, ausgeprägter und anstrengender, da auch die Schlafphasen mit dem Älterwerden kürzer wurden. Das war eine sehr anstrengende Zeit, Tim war den Tag über viel länger wach und die Unruhe wurde zunehmend stärker.
-Auffallend war auch, dass das Gefahrenbewusstsein kaum vorhanden war.
-Tim wurde im häuslichen Rahmen immer stark von Wasser angezogen, um an Wasser zu kommen, hat er sich so einiges einfallen lassen. So kam es dann, dass man auch oft im Badezimmer Zeit mit ihm verbrachte. Die Konzentrationsspanne hielt sich dabei etwas länger.
-Die Pflegeeltern sind mit Tim regelmäßig an die frische Luft gegangen, der Energie-Vorrat von Tim war bemerkenswert…machte man ihn tagsüber nicht mit regelmäßigen Unternehmungen müde, war an Schlafen nicht gut zu denken. Zunächst reichten Spaziergänge durch Wald und Wiesen, Spielplatzbesuche und kleinere Entdeckungstouren zum Tierpark usw.
-Als Tim älter wurde, war aber sehr bemerkenswert wie viele Reize er tagsüber einforderte um abends gut einschlafen zu können. Tierparkbesuche wurden uninteressanter, große Bahnhöfe wurden spannend, Schwimmbadbesuche und Kinder-Tobe-Spiellandschaften waren sehr hilfreich um Tim auszupowern. Natürlich waren auch Kinder-Turngruppen hilfreich, am Anfang auch noch Krabbelgruppen…. aber der Tag mit einem extrem unruhigen Kleinkind, welches ständig neue Reize forderte wurde immer anstrengender bis oft unerträglich. Die sozialen Kontakte der Pflegefamilie litten unter dieser Situation.
-Auf Kinderfilmchen konnte Tim sich schon früh konzentrieren, die Reize waren gegeben, aber das wollten die Pflegeeltern nicht zu früh und nicht zu viel einsetzen, da dabei auch keinerlei Energie abgebaut werden konnte.
-Auf Kinderbücher sich zu konzentrieren funktionierte erst langsam besser bei Tim, als Bücher mit Geräuschen eingesetzt wurden, Lieder-Bilderbücher vorgesungen wurden und später dann Tip Toi verstärkt zum Einsatz kam. Als Tim älter wurde klappte es mit dem Vorlesen viel besser, das Vorlesen wurde sogar eine Lieblingsbeschäftigung.
-Auf andere Kinder reagierte Tim zunächst sehr aufgeschlossen, liebte auch die Gesellschaft von ihnen, war aber nach kurzen Zeiten erschöpft von dem Zusammenspiel, gerade wenn es mehrere Kinder waren. Tim hatte extreme Verhaltensauffälligkeiten im sozial/emotionalen Bereich. Mit einem anderen Kind kurz im Kinderzimmer alleine zu lassen, ging keine einzige Minute, das war einfach für andere Kinder zu gefährlich. Impulsiv wurden Spielsachen geworfen, oder Spielsachen dem anderen Kind abgenommen usw….. Den Pflegeeltern war klar, dass Tim in dem Bereich noch viel Anleitung, Ermahnung und Konsequenz brauchte. Dieses Thema wurde leider neben dem großen Thema Unkonzentriertheit dann zur Dauer-Baustelle bis heute. Bis heute versteht Tim es kaum, dass jüngere Kinder ein anderes Level haben als er, Tim verfügt über keine Empathie. Freunde finden ist sehr schwer für Tim. Tim kann zwar problemlos Kontakte zu anderen Kindern herstellen, aber diesen Kontakt alleine nicht weiterführen. Hierbei braucht er Anleitung von einer Bezugsperson.
-Die Pflegemutter hätte es als Entlastung sehr positiv empfunden, wenn Tim mit 3 Jahren in den Kindergarten hätte gehen können. Allerdings war hieran aufgrund Tims Verhaltens nicht dran zu denken.
-Tim lernte leider im sozialen Bereich auch kaum dazu, obwohl er kognitiv sehr pfiffig wirkte und sich technische Daten und ähnliches mühelos merken konnte. Auch die Bindung zu den Pflegeeltern war stabil und ausgeglichen. Sein emotional soziales Verhalten anderen Kindern gegenüber war haarsträubend um es kurz zu fassen, Aggressionen waren auch im Spiel.
-Als Tim ca. 3 Jahre alt war bekam er therapeutisches Reiten. Sportlich machte Tim gute Fortschritte, Laufrad fahren lernte er mit 2,5 Jahren, Fahrrad Fahren mit 3,5 Jahren und auch so konnte er gut klettern usw. (Ergotherapie um die Konzentration und Körper-Wahrnehmung zu fördern begann im Alter von 4 Jahren) Im Alter von 6 Jahren lernte er Schwimmen.
-Mit 2,5 Jahren dachte man langsam an Kindergarten, aber wie bei seinem völlig unangepassten Verhalten anderen Kindern gegenüber? Als Tim 3 Jahre alt war, hatte die Pflegemutter einen Arzttermin bei einer erfahrenen Kinder-Psychiaterin mit Tim. Nach nur 5-10 Minuten war dieser Ärztin ziemlich klar, dass Tim nur mit einer Integrationskraft in den Kindergarten gehen könnte. Ein Gespräch zwischen Ärztin und Pflegemutter war kaum möglich, Tim konnte sich auf kein Spielzeug konzentrieren und forderte dort nonstop die Aufmerksamkeit der 2 Erwachsenen ein.
-Es zog sich dann leider noch bis zum 4.Geburtstag hin, bis eine geeignete I-Kraft (Fachkraft) in dem örtlichen Kindergarten zur Verfügung stand. Das Warten hatte sich gelohnt, diese I-Kraft hat Tim 3 Jahre professionell im Kindergarten begleitet, bis Tim mit 7 Jahren eingeschult wurde (Förderschule, Schwerpunkt Lernen). Heilpädagogische Frühförderung wurde vom Jugendamt bewilligt und auch umgesetzt.
-Ein großes Thema war/ist die chronische Verstopfung von Tim. Die Sauberkeitserziehung ist bis heute (10. Geburtstag steht vor der Tür) nicht abgeschlossen. Im Kindergarten musste Tim oft geduscht werden. Trocken ist Tim seit dem 4. Lebensjahr Tag und Nacht. Aber Tim lernt trotz seiner guten kognitiven Fähigkeiten nur mühsam, sein großes Geschäft aus eigenem Antrieb auf Toilette zu bringen. Die Verdauung wird mit der Gabe von Movicol und Ballaststoffen unterstützt, Toilettentraining gehört zum täglichen Programm.
-Die Kinder-Psychiaterin hatte weitere Untersuchungen/Tests für Tim vorgesehen. Im Alter von 6 Jahren wurde Metylphenidat in kleiner Menge zur Konzentrationssteigerung verabreicht…. mit sofortiger erfreulicher Wirkung. Tim konnte umgehend 30 min alleine Lego bauen, ohne sich durch das Gespräch der Eltern im Nachbarzimmer ablenken zu lassen. Die Freude war riesengroß, die Nerven der Eltern hatten bis dahin ziemlich gelitten, um es mal abgemildert auszudrücken.
-Da die Konzentrationsspanne von Tim trotz Medikamente sehr gering blieb und im Hinblick auf die Schule nicht reichen würde und die Auffälligkeiten sehr komplex wurden, wurde Tim auf Veranlassung der Kinder-Psychiaterin, in Waldstedde von Prof. Feldmann auf FASD untersucht. Die Worte des Professors „Tim ist ein Kind von einer Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat“…..dies hat zur Folge, dass im Gehirn irreparable Schäden angerichtet wurden. Mit dieser Tatsache müssen die Pflegeeltern jetzt leben.
-Das Metylphenidat wurde weiter gesteigert, Tim verträgt den Wirkstoff gut. Seit zirka dem 9.Geburtstag bekommt Tim zusätzlich Risperidon um seinen Frust/Aggressionen besser regulieren zu können.
-Kurz nach seinem 7.Geburtstag wurde Tim auf die Förderschule (Schwerpunkt L) eingeschult, auch hier ist eine Integrationskraft erforderlich. Tim lernt Lesen, Schreiben, Rechnen langsamer als andere Kinder, aber er lernt es stetig. Hierbei benötigt er sehr anschauliches Material, möglichst mit Bildchen. An seinem Verhalten muss Tim ein Leben lang noch arbeiten. Tim wird per Taxi zur Schule gefahren, der Schulbus ist aufgrund seines Verhaltens nicht vorstellbar.
-Als Tim 9,5 Jahre alt war, stellte die Kinderpsychiaterin die Diagnose „atypischer Autismus“, so kann Tim durch eine Autismus-Therapie hoffentlich weitere Fortschritte machen.
-Die Pflegeeltern haben viele Gruppen mit Tim ausprobiert, Kinderturnen, Schwimmkurse, Bambini-Fußball usw. Leider mussten diese Gruppen-Veranstaltungen immer eng begleitet werden. Für die Zukunft können sich die Pflegeeltern nur Einzelsportarten vorstellen, Tim fängt zur Zeit mit Schläger-Sportspielen, z.B. Badminton und Tennis an.
-Aktueller Stand ist, dass Tim bald 10 Jahre alt wird. Seit er in der Pflegefamilie lebt, wird er lückenlos betreut. Das familiäre Zusammenleben hat sich entspannt. Tim baut viel Lego, auch Lego-Technik und ist insgesamt noch sehr verspielt. Er hat Kinder in der Nachbarschaft, die er als Freunde empfindet. Die Pflegeeltern fördern, unterstützen und begleiten diese Kontakte. Gesellschaftsspiele oder gemeinsame Unternehmungen sind dabei gute Hilfsmittel. Die Pflegefamilie macht gerne Fahrradtouren zusammen.
-Zur Unterstützung in der Betreuung gibt es eine Tagesmutter, wo Tim einmal in der Woche hingeht, finanziert wird sie über den Pflegegrad 3 (Verhinderungspflege). Auch eine gute Kurzzeitpflegeeinrichtung übernimmt mehrmals im Jahr für paar Tage die Betreuung von Tim.
Fazit der Pflegeeltern: Es war bis heute kein einfacher Weg mit Tim, aber trotzdem ein guter Weg. Tim ist wie damals beim Kennenlernen schon, ein offener, fröhlicher und aufgeschlossener Junge geblieben. Er freut sich des Lebens, ist sehr neugierig und liebt andere Menschen und Kinder, auch wenn er leider oft nicht angemessen mit ihnen Kontakt aufnehmen kann. Tim braucht dabei aktuell noch viel Hilfestellung von seinen Betreuungspersonen. Ob Tim ein eigenständiges Leben führen kann, weiß man noch nicht. Vermutlich leider nicht, vielleicht kann er eines Tages einer geregelten Arbeit nachgehen (Behindertenwerkstatt) …aber eigenständig wohnen, können wir uns zur Zeit als Pflegeeltern heute noch nicht vorstellen. Für jede Unterstützung im Zusammenleben mit Tim sind wir sehr dankbar.