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Wie gestaltet sich der Alltag mit einem FASD-Kind?

Woher soll eigentlich all die Kraft kommen?

Ein führender Arzt auf dem Gebiet FASD meinte Letzten zu mir: „Sie müssen wie ein Kapitän sein und immer steuern!“ Ich fragte ihn daraufhin: „Und wie steuert man ein Kind, welches sich nicht steuern lässt?“

Kinder mit FASD weisen viele Auffälligkeiten auf. Der Alltag mit ihnen gestaltet sich schwierig, denn sie benötigen:

  • ständige Beobachtung (um sich und andere nicht zu verletzten)
  • ständige Anleitung (um selbst wiederkehrende Handlungen auszuführen) und
  • ständige Begleitung (zur Übersetzung sozialer Interaktionen). 

Wahrnehmung

Kinder mit FASD weisen häufig Schwierigkeiten im Bereich der Wahrnehmung auf:

    • geringe Aufnahmefähigkeit
    • Beeinträchtigungen in der Raum- und Formwahrnehmung 
    • Beeinträchtigung in der Wort- und Figurenerkennung
    • Störungen im haptischen und akustischen Bereich

    Viele Kinder sind gegenüber leichten Berührungen (Textilnaht, Wassertropfen) überempfindlich. Obwohl die Kinder selbst sehr laut sein können, erschrecken sie bei fremden Geräuschen oft stark.

    Beispiel:

    Tylar macht zu manchen Tageszeiten konstant Geräusche und ist dabei extrem laut. Knallt jedoch eine Tür zu oder gibt es ein anderes erschreckendes Geräusch, schreit er los und äußert: „Das ist mir zu laut!.

    Die meisten Kinder mit FASD sind auffallend schmerzunempfindlich und registrieren selbst stärkere Verletzungen nicht. Daher können sie auch keine Verhaltensänderung oder vermehrte Vorsicht aus gefährlichen Situationen ableiten. 

    Beispiel:

    Tylar hatte sich im Kindergarten einen Finger gebrochen. Dort hatte er nichts gesagt und es schien auch nicht aufgefallen zu sein. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt mit dem Bustransport, der ihn von zu Hause zum Kindergarten und viceversa fährt, kam Tylar mit einem extrem geschwollenen Finger an. Wir machten uns auf den Weg ins Krankenhaus. Schmerzen schien unser Pflegesohn nicht zu haben, er konnte nur einfach auf Grund der Schwellung den Finger nicht bewegen. Nach dem Röntgen wurde der Verdacht bestätigt. Er bekam einen Verband mit einer Gipsschiene und sollte den Finger schonen. Zwei Tage später waren wir wieder im Krankenhaus. Er hatte die Gipsschiene alleine durch das Bewegen seines gebrochenen Fingers zerstört. Er erhielt eine neue Schiene, die genauso lange wie die erste hielt. Beim dritten Besuch wurde nur noch ein Verband verabreicht und wir stimmten der eingeschränkten ärztlichen Versorgung zu. Schmerzen schien Tylar zu keinem Zeitpunkt gehabt zu haben.

    Ein anderes Mal nahm er dem Hund einer Bekannten einen Ball weg. Der Hund fackelte nicht lange und verletzte Tylar mit seinen Krallen an der Wange. Mit einer blutenden, klaffenden Wunde fuhren wir zur Notaufnahme. Tylar schien der Trubel um seine Person zu gefallen, Schmerzen äußerte er nicht.

    Bei Kindern mit FASD ist das Wärme- und Kälteempfinden oftmals eingeschränkt. So entspricht die von den Kindern selbst gewählte Kleidung nicht der vorherrschenden Witterung. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass die Kinder nicht planen und sich nicht selbst strukturieren können. Damit werden selbst kleine, alltägliche Handlungen, wie das Anziehen, zu großen Herausforderungen.

    Beispiel:

    Wählt Tylar seine Anziehsachen selbst aus, besteht keinerlei Zusammenhang zwischen seiner Kleidung und der bestehenden Jahreszeit. Auch nach jahrelanger Übung hat er die Reihenfolge des Anziehens nicht verinnerlicht. Wenn alle Kleidungsstücke in der richtigen Reihenfolge in seinem Zimmer liegen und er sich alleine anzieht, fehlt bspw. die Hälfte der Anziehsachen und die Unterhose oder Strümpfe wurden nicht gewechselt.

    Oftmals fehlt ein Hunger- oder Sättigungsgefühl bei Kindern mit FASD.

    Beispiel:

    Tylar liegt inzwischen mit seiner Größe im unteren Normbereich seiner Altersklasse, sein Gewicht liegt knapp über dem Untergewicht. Tylar hat wenig Interesse am Essen. In einer strukturierten Umgebung isst er, aber auch nur auf Grund des ihm dargebotenen Rahmens. Ein Hungergefühl scheint er nicht aufzuweisen. Selbst nach langen, intensiven Aktivitäten verlangt er nicht nach Essbarem, wir geben es ihm und fordern Tylar auf, zu essen.

    Sprachentwicklung

    Kinder mit FASD zeigen häufig Sprachentwicklungsstörungen. Hierbei ist vor allem der Erwerb des Wortschatzes, der Artikulation und der Syntax verzögert. Bis zu Beginn der Schule gehen diese Störungen häufig zurück. Somit bereitet das Sprechen keine Schwierigkeiten mehr und die Kinder weisen einen umfangreichen Wortschatz verbunden mit einem starken Redebedürfnis auf, jedoch bleiben die Grenzen des Verstehens weiterhin eng.

    Beispiel:

    Tylar kam mit zwei Jahren zu uns. Er sprach die Worte „Auto“ und „Ball, zeigte jedoch beim Wortgebrauch wahllos auf irgendwelche Gegenstände. Ein paar Worte hatte er noch selbst kreiert und das war die Gesamtheit seines Wortschatzes. Lange Zeit tat sich im verbalen Bereich nichts. Es dauerte bis nach seinem dritten Geburtstag, bis er schrittweise begann, neue Worte zu lernen und zu nutzen. Inzwischen hat er einen guten Wortschatz aufgebaut. Heute redet Tylar fast ununterbrochen. Er fragt sehr viel, antwortet man nicht oder auf eine ganz andere Frage, merkt er dies zumeist nicht. Zudem gibt er oft Dinge wieder, deren Sinninhalt er nicht versteht.

    Motorik

    Bei Kindern mit FASD ist die Feinmotorik oftmals gestört. Dahingegen entwickeln sie gute grobmotorische Fähigkeiten, wobei sie sich beim Laufen, Radfahren oder Klettern oftmals auf Grund des eingeschränkten Gefahrenbewusstseins überschätzen.

    Beispiel:

    Es kam mir vor, als ob wir eine Art Flatrate in unserem ortsansässigen Krankenhaus hätten. Egal wann wir in die Unfallchirurgie kamen, einer der Ärzte kannte Tylar mit Namen. Wir können nur dankbar sein, dass bis heute keine schlimmen Verletzungen erfolgten. Trotz ständiger Beaufsichtigung sprang Tylar aus extremen Höhen, er macht unfassbare Sprünge mit seinem Fahrrad und scheint einfach vor nichts Angst zu haben. Mit drei Jahren sprang er, noch eine Schwimmwindel tragend, vom 3-m-Turm, mit fünf dann vom 10er.

    Tylar besucht eine ganzheitliche Förderschule und weist einen getesteten IQ von 69 auf. Es kommt ihm sehr entgegen, dass es in seiner Schule keinen Leistungsdruck gibt. Seine Auffälligkeiten sind auch dort massiv. 

    Alltägliche, wiederkehrende Handlungen

    Auch im familiären Miteinander können die Kinder trotz häufiger Wiederholungen und Erklärungen viele alltägliche Handlungen nicht selbständig ausführen und benötigen Anleitung und Kontrolle. Alltagsrituale werden nur mühsam gelernt, und nach kurzer Unterbrechung, etwa nach einer Urlaubsreise, sind sie wieder in Vergessenheit geraten.

    Beispiel:

    Dinge, die wir mit unserem Pflegesohn besprechen, kommen oftmals nicht bei ihm an. Hat er diese in unseren Augen doch verstanden, vergisst er sie schnell wieder oder ist nicht in der Lage, diese Dinge abzurufen. Selbst Rituale wie das morgendliche Zähneputzen, welches täglich nach dem Frühstück durchgeführt wird, vergisst er.

    Konzentration

    Alkoholgeschädigte Kinder haben überwiegend eine stark verminderte  Konzentrationsfähigkeit. Die Kinder sind nur kurzzeitig aufmerksam und interessiert, sie sind leicht ablenkbar und reagieren verlangsamt. Sie bringen Spiele, bei denen Geduld erforderlich ist, nicht zu Ende und lassen sich nicht lange von einer Beschäftigung einnehmen. 

    Am Beispiel von Spielen:

    Gesellschaftsspiele dauern für Tylar zu lange, selbst wenn wir die Regeln anpassen und verändern, hat er dafür nicht die Geduld und Ausdauer. Nur sehr wenige Spiele erregen überhaupt sein Interesse. Teilweise beginnt er, mit uns gemeinsam zu spielen, um dann kurze Zeit später das Spiel für alle zu beenden. Er benötigt ständig neuen Input, in Form von Aktivitäten oder auch Spielsachen. Er möchte ständig neue Sachen kaufen. Erhält er neue Spielsachen, verlieren diese manchmal nach fünf Minuten, manchmal nach zwei Tagen ihren Reiz.

    Eigene Spielideen entwickeln Kinder mit FASD meist nicht, sondern ahmen die Spiele anderer Kinder nach.

    Beispiel:

    Tylar ist inzwischen in der Lage, kurze Spielsequenzen nachzuspielen. Entweder hat er diese zuvor auf seinem iPad gesehen und spielt Teilbereiche nach oder sein über drei Jahre jüngerer (Pflege-)Bruder hat eine Spielidee. Häufig drehen sich diese Spielideen um Unfälle, so dass Autos zusammen fahren oder das Figuren aus einer bestimmten Höhe herunter geworfen werden. Oftmals ist damit eine gewisse Lautstärke verbunden, kreatives Spielen ist Tylar fremd.

    Verhalten

    Bei Weitem belastender als die intellektuellen Beeinträchtigungen sind die emotionalen Auffälligkeiten und Verhaltensstörungen bei Kindern mit FASD. Hyperaktivität ist häufig anzutreffen, verbunden mit motorischer Unruhe, Nervosität, sehr kurzfristigem Interesse an Aufgaben bzw. schnellem Wechsel von einem Spielzeug zum nächsten. Hinzu kommt eine Ungehemmtheit und Impulsivität im Sozialverhalten. Die Kinder sind leicht ablenkbar und zeigen häufig Aufmerksamkeit heischendes Verhalten. In der Schule fallen Kinder mit FASD auf, weil sie nicht still sitzen können und ständig undiszipliniert sind. Dies kann vom Kind nur schwer kontrolliert werden. Zudem kommt eine sehr geringe Frustrationstoleranz hinzu.

    Beispiel:

    Die genannten Aspekte sind für unser Alltagsleben sehr anstrengend. Tylar ist motorisch sehr unruhig. Gehen wir irgendwohin, versucht er sich dort „zusammen zu reißen, sind wir danach wieder zu Hause, knallt es hier. Verbal ist er von außen kaum steuerbar oder lenkbar. Er scheint in seiner Welt zu leben und macht die Dinge, die er möchte und auch dann, wann er sie machen möchte. Bedürfnisse andere werden nicht einmal ansatzweise anerkannt oder wahrgenommen. Er steht im Mittelpunkt. Zudem weist er keinerlei Gefahrenbewusstsein auf und benötigt eine permanente Beobachtung, um sich und/oder andere nicht zu verletzen.

    Risikobereitschaft

    Risiken des eigenen Verhaltens, z.B. beim Spielen können Kinder mit FASD nicht einschätzen. Eine natürliche Angst vor Gefahren fehlt im allgemeinen und die Kinder sind waghalsig, übermütig, geraten im Straßenverkehr oder beim Klettern in gefährliche Situationen. Im Gegensatz zu anderen Kindern scheinen Kinder mit FASD aus schlechten Erfahrungen nicht zu lernen. 

    Beispiel:

    Unser Pflegesohn zeigt keinerlei Angst und überschätzt sich. Dass er sich nicht schon häufiger schwer verletzt hat, grenzt an ein Wunder. Er führt sehr riskante Manöver mit seinem Fahrrad, seinem Scooter oder dem Skateboard aus. Für Außenstehende schaut es so aus, als ob er unfassbar mutig ist, aber er kann einfach nur die Gefahr nicht einschätzen. Verletzt er sich, lernt er nicht daraus und macht am nächsten Tag, das Gleiche wieder. 

    Nähe und Distanz

    Auffällig ist zudem das geringe Distanzgefühl von Kindern mit FASD. Sie zeigen kein natürliches Misstrauen und suchen spontan die Nähe auch unbekannter erwachsener Personen. Kinder mit FASD gehen unbefangen auf andere Kinder zu und sind dabei distanzlos und anhänglich. Der Begriff der Freundschaft wird nicht adäquat genutzt und soziale Beziehungen nicht richtig eingeschätzt. Sie weisen kein soziales „Feingefühl“ auf und werden daher oft nicht akzeptiert und schnell abgelehnt. Nicht selten stellen sie ein anderes Kind, welches sie soeben kennen gelernt haben, als „besten Freund“ vor. Gleichaltrige Spielkameraden lehnen Kinder mit FASD oft ab, da sie die Spiele und die dazu gehörigen Regeln nicht verstehen, nach kurzer Zeit die Lust am Spiel verlieren oder dieses impulsiv stören. Oftmals spielen sie mit jüngeren Kindern, um eine Überforderung im Kontakt mit Gleichaltrigen zu vermeiden.

    Beispiel:

    Tylar hat kein Empfinden für soziale Distanz. Er geht zu Fremden hin und spricht mit ihnen, setzt sich zu ihnen, geht ihnen hinterher. Andere beschreiben ihn als offen, ich nenne es distanzlos. Lernt er ein anderes Kind kennen, ist sein zweiter Satz: „Sind wir Freunde?“ Die anderen Kinder wissen oft nicht, was sie sagen sollen und so bleibt Tylars Frage unbeantwortet, was für ihn einer Zustimmung gleichkommt. Tylar hat nun einen „besten“ Freund, den er bereits zwei Minuten kennt. Tylar versucht, sich ins Gruppengeschehen einzubringen, da er die Regeln der Spiele und auch die sozialen Regeln nicht versteht, beginnt er nach kürzester Zeit, die Spiele impulsiv zu stören. Er erlebt Abneigung der anderen Kinder, was ihn traurig macht. Den Grund dieser Ablehnung kann er jedoch nicht verstehen und beim nächsten Mal agiert er genauso. Ein erweitertes Repertoire an Handlungsmöglichkeiten steht ihm nicht zur Verfügung, üben wir etwas ein, wird es vergessen, ist nicht abrufbar oder nicht auf die neue Situation übertragbar.

    Kinder mit FASD sind hilfsbereit, aber auch naiv, leichtgläubig und schnell verleitbar. Sie sind nicht in der Lage, die  Konsequenzen ihres Handelns einzuschätzen. Kinder mit FASD sind anderen gegenüber vertrauensselig. Sie begegnen Fremden offen, ohne die Absichten anderer abschätzen zu können. Auf ein freundliches Wort hin folgen sie gerne, ohne zu erfassen, was mit ihnen geschieht oder zu verstehen, dass sie ausgenutzt werden. So sind vor allem Mädchen mit FASD, die auf fremde Zuwendung positiv reagieren und selbst teilweise in sexualisierter Weise Kontakt aufnehmen, in besonderem Maß gefährdet (Buch: FASD und Schule). ***

    Delinquenz und Gefängnis

    Jugendliche mit FASD sind nicht häufiger delinquent als Gleichaltrige, lassen sich jedoch leicht und unwissentlich für kriminelle Dinge ausnutzen. Werden sie von Erwachsenen zur Verantwortung gezogen, können sie das eigene Handeln weder verstehen noch erklären. Entsprechend geraten sie bald erneut in vergleichbare Schwierigkeiten.

    Beispiel:

    Tylar würde alles machen, um dazu zu gehören. Er würde in einen Laden gehen und stehlen oder von der höchsten Mauer mit seinem Fahrrad springen. Wir kommen derzeit nicht in diese Situationen, da er ständiger Beaufsichtigung benötigt und nicht alleine unterwegs ist. Tylar kann nicht alleine draußen spielen, er kann nicht alleine zum nahegelegenen Spielplatz oder oder oder….er weist Null Gefahrenbewusstsein auf, ist Null verkehrssicher und er hat ja gar keine Freunde, die er besuchen könnte. Besucht er das Kind einer unserer Freunde, sind wir dabei, da er das gemeinsame Spiel nur kurz aushält. Schnell verändert sich sein Spiel in Schlagen, Hauen oder Schubsen und das nicht, weil er Aggressionen aufweist, sondern, da er nicht weiß, was angemessen und adäquat ist und wie er anders die Kommunikation am Leben erhalten könnte.

     

    Alkoholkonsum als Ungeborenes und als Erwachsener?

    Nach derzeitigem Wissensstand ist kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Alkoholeinfluss während der Schwangerschaft und späterem Alkoholkonsum bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit FASD zu verzeichnen. Möglicher Alkoholmissbrauch ist wahrscheinlich eher auf das fehlende Risikobewusstsein und die leichte Verleitbarkeit zurückführbar, da Konsumangebote aus dem sozialen Umfeld für Menschen mit FASD nicht ablehnbar sind (fasdhilfeaustria.at).