Die Drei-Perspektiven-Sicht
Auf dieser Seite sollen unterschiedliche Sichtweisen angesprochen werden. Bspw. wird auf medizinischer Basis beschrieben, dass Kinder mit FASD eine andere Wahrnehmung aufweisen…aber was bedeutet das wirklich im Alltag? Die nachfolgenden Beispiele sollen verschiedene Perspektiven der gleichen Situation aufzeigen.
Das Gehirn scheint während seiner Entwicklung in der Schwangerschaft sehr anfällig auf die toxische Wirkung von Alkohol zu reagieren. Ein negativer Einfluss des Alkohols ist bei allen Gehirnleistungen, wie dem Gedächtnis, dem Lernen, der Exekutivfunktionen, der Verhaltensregulation oder der Sozialkompetenz zu verzeichnen. Es besteht jedoch kein einheitliches Schädigungsbild für FASD-Kinder, jedes Kind ist anders, daher sollen die folgenden Beispiele nur Anregungen darstellen…
Medizinisch
Die Umsetzung der verbalen Information in eine Handlung scheint oftmals für Menschen mit FASD schwierig zu sein. Die Aufnahme, Verarbeitung und Verknüpfung von Informationen ist beeinträchtigt. Dies basiert auf einer hirnorganischen Schädigung.
Bezugsperson
Die Bezugsperson gibt ihrem Kind den Auftrag, das Licht in seinem Zimmer auszumachen. Das Kind geht los und hat auf dem Weg bereits den Auftrag vergessen. Es macht im Bad das Licht an und kommt zurück.
Auf Nachfrage kann das Kind den Auftrag wörtlich korrekt wiedergeben, die Verknüpfung mit der tatsächlichen Handlung gelingt jedoch nicht.
FASD-Kind
Ich habe doch den Auftrag ausgeführt, was möchte meine Mutter von mir? Warum fragt sie mich nach dem Auftrag? Warum soll ich ihn wiederholen?
Medizinisch
Somit ist die Wahrnehmung und vor allem die Umsetzung verbaler Aufforderungen stark eingeschränkt.
Bezugsperson
Mein Kind hört nicht.
FASD-Kind
Mama redet mit mir, Mama möchte etwas, ich höre die Worte, fragt sie mich, kann ich diese Worte wiederholen, aber ich verstehe den Auftrag nicht…ich weiß einfach nicht, was sie will.
Medizinisch
Kinder mit FASD können oft nicht auf vorhandenes Wissen zurückgreifen. Lernen sie etwas Neues, ist das bereits Gelernte ggf. wieder vergessen oder befindet sich in einer „Schublade“, die gerade nicht geöffnet werden kann.
Bezugsperson
Wir haben doch die Mathe-Aufgaben die letzten Tage ausgiebig geübt, wieso kann er sie heute nicht mehr.
FASD-Kind
Gestern konnte ich die Aufgaben lösen, wieso gelingt es mir heute nicht mehr?
Medizinisch
Kinder mit FASD empfinden oft keinen Schmerz.
Bezugsperson
Dein Finger ist ja ganz dick! Kannst du ihn bewegen? Ist der gebrochen?
FASD-Kind
Was ist denn los??
Medizinisch
Kinder mit FASD weisen oft kein Gefahrenbewusstsein auf.
Bezugsperson
Nicht aus dieser Höhe springen!
FASD-Kind
Warum soll ich nicht springen? Es macht doch Spaß!
Medizinisch
Kinder mit FASD weisen oft kein Gefahrenbewusstsein auf UND lernen nicht aus negativen Erfahrungen (wie z.B. Schmerzen, da sie ein geringes Schmerzempfinden aufweisen).
Bezugsperson
Das Kind hat sich beim Sprung letzte Woche den Knöchel verstaucht. Die Mutter möchte verhindern, dass dies wieder geschieht und sagt ihrem Kind: „Nicht (nochmal) aus dieser Höhe springen!“
FASD-Kind
Warum soll ich nicht springen? Es hat doch Spaß gemacht!
Medizinisch
Kinder mit FASD können schwer generalisieren. Sie können Gelerntes nicht auf eine andere Situation übertragen.
Bezugsperson
Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht auf der Straße spielen darfst. Es ist gefährlich und ein Auto könnte dich verletzen.
FASD-Kind
Mama hat mir gesagt, ich darf nicht auf der Straße vor unserem Haus spielen, aber ich war doch in einer anderen Straße und habe dort gespielt … was habe ich falsch gemacht?
Medizinisch
Kinder mit FASD weisen kaum ein Gefühl für Gefahren auf, zudem ist es schwierig für sie, Regeln zu verinnerlichen, diese abzuspeichern, sie wieder abzurufen und umzusetzen. Das gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Verkehrssicherheit.
Bezugsperson
Wir haben die Verkehrsregeln doch immer wieder eingeübt und wiederholt, warum bleibt er an einer Straße nicht stehen.
FASD-Kind
Was schreit denn Mama hinter mir her, ich fahre doch nur mit dem Rad.
Medizinisch
Kinder mit FASD geben oft Gesprächsinhalte wieder, die sie nicht verstehen. Durch ihre oftmals guten verbalen Fähigkeiten wirken sie häufig „fitter“ als sie sind.
Bezugsperson
Im Gespräch beschreibt das Kind etwas, die Mutter fragt: „Was bedeutet denn das?“
FASD-Kind
„Keine Ahnung!“
Medizinisch
Kinder mit FASD sind impulsiv und weisen Probleme mit sozial adäquatem Verhalten auf.
Bezugsperson
Versuche doch mit den anderen Kindern zu spielen. Das Kind geht zu den anderen Kindern und stört deren Spiel.
FASD-Kind
Ich wäre soooo gerne Teil der Gruppe, aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Da ich nicht weiß, wie ich mich „richtig“ verhalte, störe ich einfach, irgendeine Reaktion bekomme ich so auf jeden Fall.
Medizinisch
Kinder mit FASD sind oft distanzlos. Sie reden mit Fremden, als würden sie sie schon lange kennen. Sie nehmen u.U. Körperkontakt mit ihnen auf und würden mit ihnen mitgehen.
Bezugsperson
Die Bezugsperson versucht ihrem Kind zu erklären, dass es Familienangehörige oder Freunde umarmen darf, fremde Personen werden NICHT umarmt.
FASD-Kind
Ich habe dem Mann doch „Hallo“ gesagt, ich kenne ihn somit, wieso darf ich mich nicht auf seinen Schoß setzen?
Medizinisch
Kinder mit FASD verstehen soziale Regeln nicht. Sie können kaum Freundschaften aufbauen, da sie das abstrakte Konzept eine Freundschaft nur wenig nachvollziehen können.
Bezugsperson
Ein Freund ist jemand, den man gut kennt und mit dem man Zeit verbringt.
FASD-Kind
Ich habe doch den Jungen gefragt, ob er mein Freund ist. Das war mein zweiter Satz nach: „Hallo“. Er hat nichts dazu gesagt, also ist er mein Freund.
Medizinisch
Kinder mit FASD sind oft distanzlos.
Bezugsperson
Du kennst die Leute doch gar nicht, lass sie bitte weitergehen.
FASD-Kind
Ich habe doch „Hallo“ gesagt, dann kenne ich die Leute und ich kann ihnen ganz lange meine BMX-Rad Tricks zeigen und ihnen immer wieder sagen: „Schaut mal, ich möchte euch etwas zeigen!“.
Medizinisch
Kinder mit FASD weisen eine geringe Konzentrationsspanne auf.
Bezugsperson
Das Kind fragt, ob wir ein gemeinsames Spiel in seinem Zimmer spielen können. Das Kind beginnt zu spielen, nach kürzester Zeit stört es den Ablauf des Spieles und beendet es.
FASD-Kind
Ich würde so gerne ein Spiel bis zum Ende spielen, nur sind da ständig neue Ideen, die ich sofort umsetzen MUSS.
Medizinisch
Kinder mit FASD sind sehr sprunghaft.
Bezugsperson
Das Kind möchte rausgehen und mit dem Fahrrad fahren. Innerhalb kürzester Zeit wird zwischen Fahrrad, Scooter, Skateboard und allen weitern verfügbaren Sachen gewechselt.
FASD-Kind
Ich brauche immer etwas Neues, einen neuen Impuls, alles andere ist langweilig. Außerdem habe ich ständig neue Ideen im Kopf.
Medizinisch
Alltagsrituale müssen mühsam eintrainiert werden. Nach kurzen Pausen, z.B. auf Grund eines Urlaubs, ist das gelernte Ritual oft wieder in Vergessenheit geraten.
Bezugsperson
Ziehe bitte deine Anziehsachen an (die in der richtigen Reihenfolge auf dem Stuhl liegen).
FASD-Kind
Was sollte ich nochmal machen? Erst Hose, dann Unterhose??
Medizinisch
Alltagsrituale müssen mühsam eintrainiert werden (II).
Bezugsperson
Wir sind im Bad. Hier werden sich morgens und abends zu bestimmten Zeiten die Zähne geputzt. Das Kind möchte das Bad verlassen und sagt, es ist fertig. Ans Zähneputzen wurde nicht gedacht.
FASD-Kind
Zähneputzen? Jetzt? Nach dem Abendessen???
Medizinisch
Kinder mit FASD haben oft kaum ein Kälte- oder Wärmeempfinden. Kleidung witterungsgerecht anzuziehen, ist fast nicht möglich.
Bezugsperson
Was möchtest du heute anziehen? Es ist Winter und kalt draußen.
FASD-Kind
Die kurze Hose!
Einige werden jetzt sagen, dass auch regelentwickelte Kinder das Zähneputzen „vergessen“, sich nicht der Jahreszeit gemäß anziehen oder einfach über die Straße rennen. Es ist jedoch ein großer Unterschied, ob ein Kind etwas kann und weiß, aber es nicht tun möchte oder ob ein Kind, Verkehrsregeln auf Grund der eigenen Impulsivität nicht umsetzen kann oder einfach nicht versteht, was eine Freundschaft bedeutet.
Oft haben wir den Satz bereits gehört: „Das ist bei meinem Kind genauso!“…diese Aussage, auch wenn sie gar nicht böse gemeint ist, negiert eine Schwerbehinderung, die eine konstante Beaufsichtigung eines FASD-Kindes beinhaltet.